Sinn und Mythos in Erkrankungen

"Erscheinungen der Welt sind dazu da, dass sich
der Mensch daran erlösen kann, weil sie Teil
von ihm sind."  (T.v.Aquin)
Deshalb war die Umwelt geheiligt.
Die Erscheinungen waren Ausdruck des Göttlichen
Willens. Es herrschte Übereinstimmung, was der
Mensch als Mensch fühlte und dem, was ihm
geschah. Der Mensch war sich gewiß, wo er
mitten drin saß, nämlich seinem Leben, - im Gegensatz
zu heute.
Heute sitzt der Mensch in einem fremden Leben
drin. Damals nahm man als gottgewollt hin
was einem geschah, es gab keine Auseinandersetzung.
Es war intim. Es war persönlich.
(Wolfgang Döbereineri)

 

Seit alters her, der Weg des Menschen, existentielle Fragen nicht stellend, dargestellt als ein Weg in geschlossenen Kreisen, ein Symbol der Schlange, die sich in den Schwanz beißtii.

 

Fragen nach dem Grund stellen sich dort nicht, wo eines sich durch sich selbst erklärt. In Ausübung von Tätigkeit vergehen Fragen nach dem Sinn - so, wie der Klang der Stimme im Maschinenraum eines Schiffes. Nur mehr der Zweck bleibt bestimmend.

 

Wenn wir essen, fragen wir nicht. Wenn wir die Wohnung aufräumen, fragen wir nicht. Wenn wir ein Haus bauen, fragen wir nicht. Ziehen wir Kinder groß, fragen wir nicht. Verdienen wir Geld, fragen wir nicht - genau so bei der Einnahme von Medikamenten. Zwecke lassen alle wesentlichen Fragen verstummen.

 

Wesentliche Fragen zeichnen sich durch die Abwesenheit von Antworten aus. Es ist beruhigend, sie zu meiden. Hören sie das Klatschen einer Hand! Damit will man nichts zu tun haben. Und doch – wer in der Welt des Nutzens bleibt, bleibt auch in der Welt des Nonsens. Warum ist die Tomate rot? Darauf weiß man dann eine Antwort! Wie entstand die Welt? Durch den Urknall! Doch worin knallte der Knall? Er konnte nur in etwas knallen, nicht in nichts. Dieses Etwas wird wie selbstverständlich schon vorausgesetzt, ohne etwas würde nichts entstehen. So will man es durch sich selbst erklären. Das klingt besser, als wenn man sagte: „ich habe keine Ahnung“, obwohl dies der Fall ist.

 

Bei Erkrankungen sind es die gleichen Umstände, die bestimmen, in welche Richtung man geht.

 

Denkt man vom Nutzen her, von Zwecken und von Zielen, dann sind Erkrankungen ein Hindernis, gemessen in einer Bandbreite von Unbequemlichkeiten bis hin zu grausamen Schicksalsschlägen.

 

Dabei müsste man ehrlicherweise bemerken, bestünde der Wert der Leben nur in der Ausübung von Existenz durch Tätigkeit, oder im Genuß von Annehmlichkeiten, so müsste sich die Frage aufwerfen, ob nicht jeder Einzelne egal wäre, wenn ein anderer die gleichen Funktionen ausüben könnte. Natürlich stellt man eine solche Frage nicht … Ganz anders ist das Bild, erkennt man das Leben als Mythos. Es ist das Erkennen des Daseins in weiteren Bezügen als denen der realen, funktionalen Welt. Es eröffnen sich Dimensionen, die jenseits des Realen existieren, ein Verständnis im Weltganzen. Freilich spielt der Gesundheitszustand des Menschen dabei indirekt eine große Rolle. Gemäß dem Postulat der Bewußtseinsminderung durch Einnahme kausal wirkender Substanzen bei Erkrankungen (s.u.) könnte die Erfahrung von Mythos und Sinn durch Einnahme von Medikamenten behindert sein.

 

Im werdenden Heute scheint die Gesundheitssituation der Lebewesen - ganz im Gegensatz zur steigenden Lebenserwartung - zunehmend schlechter zu werden. Ohne Statistiken bemühen zu wollen kann man wohl feststellen: Menschen werden immer kränker. Gelegentlich wird es in den Medien berichtet: soundso viele Millionen haben Depressionen, soundso viele Millionen haben chronische Schmerzen, soundso viele Millionen haben Diabetes, soundso viele Millionen haben Herz-Kreislauf-Erkrankungen, soundso viele Millionen haben „Rücken“, ... Zivilisierte Gesellschaften bieten jedoch auch viele Mittel, mit deren Hilfe sich Beschwerden ertragen lasseniii. Die Ursachen werden dabei aber nicht benannt. So findet sich der Kranke in einem Geflecht von Abhängigkeiten, die ihn in ein System binden. Die Ausübung von individueller Existenz wird mehr und mehr Funktion eines Systems. Man ist abhängig von Medikamenten, die man selbst weder versteht, die man nicht selbst herstellen kann, die einem keinen Zuwachs an Bewußtsein, keinen Zuwachs an wissendem und authentischem Leben bringen.

 

Dem Einzelnen ist diese Abhängigkeit jedoch meist weder bewußt, noch leidet er unter ihr, denn sie nützt ihm, und sie befreit ihn vom Ungemach der Frage nach seinem Sinniv. Es ist gar so, daß er sich keine persönlich bezügliche Frage gefallen lassen muss. Das gebietet die Höflichkeit. Wir akzeptieren Xatntivonv und Genübertragung, aber wir akzeptieren nicht, daß ein Mensch wie Heinrich der VIII von England elend zu Grunde ging (worüber kaum jemand traurig gewesen sein soll, nachdem er nicht nur mehrere Ehefrauen grausam misshandelt hattevi). Die moderne Medizin hätte ihm sicherlich eine längere Lebensspanne ermöglicht.

 

Die Auswirkungen der Unkenntnis seiner selbst können je nach Vermögen unterschiedlich sein.
Niemand muss im Jahr 2018 befürchten, nach einem Beinbruch vom Arzt zur Situation seiner Ehe befragt zu werden. Eben das ist die Würde des Menschen, daß er selbst entscheidet, ob er etwas über sich wissen will, oder nicht. Der Mensch wandelt sich in der Verweigerung von Wissen über sich selbst zur Märchengestalt des Rumpelstilzchenvii. Denn bei Krankheit geht es oft auch um die Geburt einer Gestalt im Bewußtsein („das Kind“ im Märchen), deren Verhinderung als Krankheit zum Zeichen im Realen wird. Dann will deren Name ( also deren Grund) nicht genannt werden.

 

So kommt es, daß Erkrankungen, medizinisch, psychologisch oder funktional beschreibend formuliert, vom Patienten klaglos angenommen werden, denn diese Zuweisungen betreffen nicht seinen „wahren“ Namen, sie sagen nicht, worum es eigentlich geht. Ja, sie lenken davon ab.

 

Von wirklichen Ursachen einer Erkrankung will meist keiner etwas wissen – weder die Betroffenen selbst, noch die zu ihnen in Beziehung stehenden Personen.

 

Der Grund dafür liegt auf der Hand: es gibt keine Lösung, die den Subjekten keinen Schmerz zufügte.

 

Da liegt es nahe, alternativ den primär geistigen Konflikt nicht zu lösen, indem man vordergründig die Krankheitserscheinungen und Personen sachlich-funktional betrachtet und behandelt. Dieses Vorgehen kann, in akuten Fällen oder bei Gefahr im Verzug, sinnvoll sein. Bleibt es allerdings in der Neutralität der Bezeichnungen, ist dies Zeichen einer verminderten Kultur. Erleichtert wird dieser Umstand dadurch, daß der Preis dieser Ignoranz - der Verlust von Sinn - erst später zu entrichten sein könnte.

 

Wird aber eine wesentliche Ursache benannt, so kann es passieren, daß der Patient „sich selbst vor Zorn zerreißt“ , die Benennung „hat dir der Teufel gesagt“ - oder, man hält es einfach nicht für relevant und/oder nicht für seriös. Es sind dies Folgen einer chronisch gewordenen Neutralisierung des Bewußtseins. Dabei scheint man nur Akzeptanz finden zu können, wenn man nicht wahrnimmt, wer man selbst, wer der andere, und was die Welt ist. Am Ende wendet es sich gegen den Betroffenen selbst, so daß man Lösungen nicht mehr sieht, obwohl sie direkt zur Hand wären. Ohne sich selbst als Lösung anzunehmen, sieht der Erkrankte sein Heil nur darin, sich einem externen Diagnose- und Funktionssystemen zu „verschreiben“. In dieser Hinsicht hat die Wissenschaft die Rolle der Kirchenreligion des Mittelalters übernommenviii. Dies gilt umso mehr, als das Wissenschaftssystem soviele finanzielle Ressourcen abzieht, daß dem größten Teil der Bevölkerung, allein schon aus finanziellen Gründen, de facto keine Alternative mehr bleibt. Dem Mythos wird im Dasein der Boden entzogen, damit werden Sinn und Kultur gemindert. Dabei geht es gar nicht um ein „entweder – oder“, sondern um das rechte Maß.

 

Ein aktives Bemühen um ein Wissen um sich selbst scheint für die Heilkunst wesentlich in Hinsicht auf das Postulat: beim Auftreten von Erkrankungen ist das Bewußtsein der Bedeutung vermindertix (auch der Verlust der Erlösungsfähigkeit bei Krankheitssymptomenx).

 

Mit dem Unwissen über sich sich selbst ist es wie mit einer Erbschaft – deren Auswirkungen könnten sich in die Zukunft erstrecken - laut dem Alten Testament gar bis ins vierte Glied, so daß die Kinder den ungelösten Konflikt zwischen ungesicherter Bestimmung und gesichertem Leben immer wieder zur Lösung vorgelegt bekommen. Im Alten Testament findet sich die Formulierung: „Bei denen, die mir Feind sind ...“. Gott wird hier zum Bild des Wissens über sich sich selbst, in Form der Wahrnehmung der eigenen Bestimmung, beziehungsweise deren Verneinung:

Gott sprach: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich heraus geführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, bis in die dritte und vierte Generation. (2. Mose - Kapitel 20)

Es nimmt einen kaum Wunder, daß dieser biblische Auszug aus Ägypten lange Zeit als Sinnbild für Menschen dienen konnte. Befreit man es vom historischen Kontext, so scheinen Zusammenhänge auf, die zeitlos Lebensweg und Sinnsuche darstellen.

 

Nun mag in einer demokratischen Gesellschaft kaum einer ein Sklavenhaus sehen, aus dem er herausgeführt werden könnte. Jedoch - Die Grenzen zwischen Sklaverei und „sklavereiähnlichen“ Erscheinungen, wie etwa Zwangsarbeit, sind fließendxi. Auf viele Menschen trifft die Definition zu, nach der sie zu einer Arbeit gezwungen sind zur Vermeidung eines empfindlichen Übels. Den Unterschied macht einzig eine immaterielle Charakteristik, nämlich der Umstand, ob einer seiner Bestimmungxii folgt, oder nicht.

 

Da die alltäglichen Zwänge eines modernen, zivilisierten Lebens alltäglich auftreten, nimmt man sie als solche kaum noch wahr. Einschränkungen im Ausdruck von Leben nehmen unaufhörlich zu, am Ende bleiben genormte Ausdrucks-, Erlebnis- und Denkbereiche, sowie ein Katalog an Verpflichtungen, in denen sich man, ohne empfindliche Strafen befürchten zu müssen, bewegen kann beziehungsweise muß. Auch nutzt man die Strukturen und Dienstleistungen des Sozialstaates freiwillig, und sie nutzen einem auch selbst. Dabei kommen Fragen, die einen solchen Zustand als „Sklavenhaus“ kennzeichnen, kaum mehr auf. Nur wenn man nachdenkt, kann einem klar werden, daß das Individuum, das in einem Staat lebend, für den Staat lebt. Es konstituiert den Staat und ist dabei jederzeit ersetzbar. Auch deshalb lebt der Mensch in einer fremden Welt, in der er sich durch Unwissenheit über sich und andere, sowie durch falschen Anschein schützen mußxiii.

 

Der Begriff „Sklavenhaus“ wird meist negativ empfunden. Dies ist wohl nicht unbedingt angemessen, denn im Altertum (wie auch heute in ähnlichen Verhältnissen) konnten Sklaven Ämter, Besitz und einen hohen sozialen Stellenwert erreichen. Warum sollte man diesen Zustand negativ beurteilen? Dennoch schmeichelt eine solche Sicht dem Ich nicht. Offenbar gibt es einen inneren Wert, der dies verurteilt.

 

In dieser Hinsicht gleicht die heutige Situation der Situation der Juden im alten Ägypten.
Wenngleich oftmals nur im Kleinen, wenngleich oftmals vornehmlich auf zellulärer oder auf unterbewußter Ebene: für Lebewesen scheint es - in einem grundsätzlichen Sinn - zu dieser riskanten Entwicklung kaum eine Alternative zu geben, bei der man nicht Leben aufs Spiel setztexiv. Die Grundlage jeder Entwicklung ist der Kreislauf von Werden und Vergehen. Dabei ist es das Wissen um die umfassende Gestalt, welches in diesem Sinn ein Vertrauen in die Zukunft begründet.

 

Dies wirft auch ein Licht auf die kleineren Ereignisse um Erkrankungen. Optimal sind sie dann wie eine Häutung, bei der das Alte zurückgelassen wird. Es ist eine Regeneration aus dem eigenen Ursprung.

 

In einem grundlegenderen Sinn aber können diese Ereignisse auch traumatisch und crash-artig sein, in einem Ausmaß, das die gesamte eigene Existenz in Frage stellt. Im besten Fall geschieht dies durch bewußtes Handeln, so, wie der Auszug der Juden aus Ägypten. Bei Erkrankungen wäre dies dann eine passive Form des Erleidens, die so zumindest auch in Bewußtsein verwandelt werden könnte.

 

Da genießt mancher lieber das Leben in Gefangenschaft der Sachzwänge und fühlt sich während dessen bestenfalls frei. Das wäre dann „virtuelle“ Freiheit, jene Freiheit derer, die das Wirkliche nicht wagen.

 

Die Situation wird in Literatur und Philosophie mit Höhlengleichnissen beschrieben:

Als Höhle im Sinne des Gleichnisses fungiert ein gigantisches Einkaufszentrum, ein Gebäudekomplex, der zugleich Konsumtempel mit künstlichen Erlebniswelten und Wohnanlage ist. Dort kann man sein ganzes Leben verbringen. Bei Bauarbeiten wird unter dem Zentrum eine Höhle gefunden, in der die mumienartigen Leichen von sechs Personen sitzen, die zu ihren Lebzeiten wie in Platons Schilderung gefesselt waren. Unter dem Eindruck dieser Entdeckung verlassen die Protagonisten des Romans das Zentrum.xv

Dieser geheimnisvolle innere Wert, der uns eine solche Situation negativ beurteilen lässt, heißt Freiheit. Er erscheint aus zweckmäßiger Sicht hinderlich und sinnlos, und doch ist er so mächtig, daß er ungebrochen Unruhe im Menschen erwirken kann, wenn das Dasein der seinem Ursprung und seiner Bestimmung nicht gemäß ist.

 

Diese Unruhe kann auch moderne Menschen erfassen, obwohl, streng genommen, in einer naturwissenschaftlich dominierten Betrachtungsweise, Begriffe wie Freiheit oder Anfang nicht existierenxvi dürften.

 

Freilich ist seit alters bekannt: das Streben nach individueller Freiheit alleine führt leicht in die Unterdrückung von Schwächeren. Auch liegt es auf der Hand, daß sich das das nicht gut ausgehen kann, wenn man gegen andere etwas erwirken will.

 

Freiheit braucht Maß und Richtung, in ihrem Fall heißt das Maß „Bestimmung“. Es ist die Antwort auf die Frage: frei zu was? Hier vereinen sich die Gegensätze: Freiheit zur eigenen Bestimmung.

 

Diese Bestimmung könnte das Individuum in seinem Empfinden finden. So dieses Empfinden eigenständig, erfahren und kultiviert ist, spricht es für das Eigene und nicht gegen andere. Es zeigt das Individuum unabhängig von der sozialen Umwelt. Es richtet sich nach seinem Sein, und kämpft nicht gegen das Leben anderer.

 

Dies ist ein Grund, warum die Juden in Sklaverei auszogen auf eine unsichere Suche nach dem eigenen Land. Das scheint beachtlich, eine gewisse und komfortable Gegenwart aufzugeben für eine ungewisse Zukunft. Dies zeigt die Ausrichtung auf die eigene Bestimmung. Ganz anders manche Freiheitskämpfer der Geschichte: sie kämpften gegen Unterdrücker, und mussten selbst ähnlich dem werden, was sie einst bekämpften.

 

Die Suche nach Freiheit und die Suche nach der eigenen Identität gehören untrennbar zusammen – man könnte sie auch Suche nach Gott nennen. Auf wunderliche Art sind darin alle Dinge synchronisiert.

 

Diese biblische Geschichte scheint ungebrochen aktuell.
In heutige Worte übersetzt: - das Verlassen einer gesicherten und komfortablen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. - das Suchen nach eigener Identität und eigenem Reich. - deren Erfolg ist ungewiss, die Dauer unbekannt. - das Handeln ist unvernünftig und riskant. (Die Israeliten waren 40 Jahre unterwegs, bis auf zwei kamen alle in der Wüste um.)

 

Man möchte meinen, alle, die vor dem Vorhaben warnten, hatten Recht behalten. Faktisch endete der Auszug in der Katastrophe, genauso etwa wie das Leben des christlichen Religionsbegründers. Doch Bilder, die diesen Konflikt nicht formulieren lassen, sind unverstanden. Die Botschaft des Auszugs ins eigene Leben lautet: Man versuche, das Richtige zu tun, auch wenn es unvernünftig ist; wer an seine Bestimmung glaubt, wird das Ziel erreichen. Anderenfalls wird man untergehen. Die Begründung für das Scheitern war der „eifersüchtige Gott“, der jeden Zweifel kompromisslos bestraft. Der Umstand, daß eine solch unvernünftige Geschichte Bestandteil des Kanon eines Heilsweges wird, läßt vermuten, daß sogar Scheitern und Untergang beim Auszug aus der Gefangenschaft sinnvoll sind.

Wer sich an der Formulierung „eifersüchtiger Gott“ stört, bedenke: es kann dies auch eine andere Bezeichnung für den Umstand sein, daß die Nicht-Beachtung von Naturbestimmungen Folgen hat. Wer über dünnes Eis läuft, der kann ertrinken. Wer achtlos über die Straße läuft, der kann überfahren werden.

Auch Risiken sind für viele Anlass, alles zu bekämpfen, was nicht dem Nutzen der Subjekte dient, um sich niemals auf riskante Abenteuer im Dialog mit Gott einzulassen. Doch auf geheimnisvolle Weise ist der Preis dafür der Verlust der Bestimmung und damit der Verlust des Sinns des Individuums. Das Individuum wird assimiliert in in ein soziokulturelles System. Es kann nur mit diesem System, und nur als Bestandteil dieses Systems leben. Der Mensch geht darin auf, er verliert sich darin. Damit sind aber auch viele Wege menschlicher Erfahrung ausgeschlossen. Ohne Sinn wird der Mensch zum Vertreter eines Systems, welches nun ersatzweise zu seinem Sinn geworden ist. Er ist eine Funktion, und der Gewinn dieser Symbiose besteht in der Teilhabe an Technik, Unterhaltung und Bestätigung. Er muß nicht nachdenken; nähert sich die letzte, unvermeidliche Bestimmung, die Begegnung mit der eigenen Endlichkeit, wird ihm auch Betäubung zur Verfügung gestellt.

 

Aus heutiger, wissenschaftlicher Sicht, scheinen diese alten Bilder der Bibel des Auszugs aus der Gefangenschaft in Hinsicht auf die aktuell fortschreitende „Mycelisierungxvii von Gesellschaften völlig unpassend. So ist es nur verständlich, daß die christlichen Religionen an Bedeutung verlieren, genauso, wie Religionen, die die soziale Gemeinschaftlichkeit betonen, der Teilhabe und Bildung globalisierender, Mycel-bildender Systeme besser entsprechen (z.B. symbolisiert durch einen Herdenruf).

 

In Hinsicht auf Krankheit wird deutlich, daß man es mit zwei fundamental entgegengesetzten Bewegungen zu tun hat:

  • Krankheiten, die zur Bestimmung der eigenständigen Person hinführen,
    durch Neubeginn, unter Zurücklassung des alten („Häutung“, Regeneration, Entwicklung)

  • Krankheiten, die zur Bildung (und Bindung an) äußerer Funktionssysteme führen,
    unter Einengung des Bewußtseins des Menschen mit Fokus auf Nutzen hin.

Eine Heilkunst, die dem Menschen behilflich ist auf dem Weg zur eigenen Bestimmung, wird in gleichem Maße schwieriger bestehen können, wie die soziokulturelle Funktionalisierung der Umwelt zunimmt. Behandlungen „lege artis“ sind unumgänglich, wollte ein Behandler sich nicht strafbar machen. Was inhaltlich unter „lege artis“ in der Heilkunde zu verstehen ist, bestimmt heute wie selbstverständlich die zeitgenössische Wissenschaftxviii. Damit sind in Deutschland, im Zuge des Liberalismus, nicht-wissenschaftliche Heilmethoden streng genommen nur mehr noch begleitend zur Schulmedizin möglich.

 

Der oben benannte Charakterisierung des menschlichen sozialen Daseins als „Mycelisierung“ (s.o.) lässt das biblische Bild des Auszugs aus der Fremdherrschaft zunehmend bedeutender werden. Zusammen mit dem Postulat der Bewußtseinsminderung durch Einnahme kausal wirkender Substanzen bei Erkrankungenxix entsteht eine selbstverstärkende Bewegung in Richtung Abhängigkeit des Individuums, die nicht als problematisch erkannt, oder die gar gesucht wird. Dabei besteht bei aller Rationalität eine Ähnlichkeit zu Suchtverhalten.

 

Was gestalthaft in seiner Bedeutung offensichtlich ist, kann rational nicht verstanden werden. Der Versuch, eine Bedeutung zu erklären, muß genauso scheitern, wie der Versuch, einen Witz zu erklären.
Es gleicht dem Versuch, einen Elefanten durch ein Nadelöhr zu schieben. Dies begründet die Kunst der Andeutungen und Zeichen.

 

In Hinsicht auf Heilung besteht aus mythologischer Sicht für den Menschen der Neuzeit das größte Hindernis im Verlust der Eigenständigkeit in Bezug zu sich selbst.

 

In einer funktionalisierten Welt wird nahezu jede Unterbrechung oder Hinderung von Tätigkeit bei Erwachsenen – ausgenommen nur Zeiten der Erholung, Kindheit und Ruhestand - als Krankheit bezeichnet.

 

In gleichem Maße verliert sich das Verständnis des Menschen zu sich selbst. Dabei wird ihm das grundlegende Vertrauen in die Zuständigkeit für sich selbst, die Kompetenz zur eigenen Gesundheit, sowie die Wahrnehmung seiner selbst in Bezug zur Gesundheit, vermindert. Die meisten physiologischen Vorgänge laufen unbewusst ab, so daß die mangelnde Kompetenz im Bewußtsein sich oft lange nicht bemerkbar macht. Heute sieht man wenig Verständnis für den Umgang mit vegetativen, unwillkürlichen Vorgängen im Körper, obwohl dies angeboren ist, und gar jedem Tier zur Verfügung steht.

 

In Hinsicht auf Selbstheilung steht zuvorderst bei jedem Lebewesen das Bewußtsein einer Unstimmigkeit, wenn etwas nicht stimmt. Durch geistiges Eintauchen in diesen Umstand wird dieses diffuse „Etwas“ zu einem gestalthaften Bild. Aus dem Bewußtsein in diesem Bild könnte sich dann die heilende Re- oder Neustrukturierung des Organismus entwickeln. Der gesamte Vorgang ist nicht intellektuell, ja sogar wirkt ein Intellekt - soweit vorhanden - eher störend. Eine solche Wirkweise ist gestalthaft, deshalb auch ursächlich und vollumfänglich. In diesen Geschehen gibt es keine Diagnosen, keine Analysen – bei Zuziehung eines Intellekts mögen Deutungen angebracht sein.

 

Der Zeitgenosse, dem solches unverständlich scheint, möchte in Betracht ziehen: in einem Organismus wie seinem, in dem sekündlich 50 Millionen Zellkreisläufe begonnen und beendet werden, bilden sich sehr komplexen Strukturen. Damit entstehen auch sehr viele Möglichkeiten für Störungen. Und doch wird - gemäß der Blaupause der Gestalt - der Organismus in seiner Form über viele Jahre durch unbewußte Vorgänge – wie von selbst - aufrecht erhalten.

 

Das Unbewußte ist die Quelle, die auf wundersame Weise die Gestalt der Lebewesen aufrecht erhält – es ist ein Wunder. Seinem Wesen gemäß kann das Unbewußte nicht gefördert werden. Nur seine unmittelbaren Wirkfelder sind zum Teil der Anschauung und dem Empfinden zugänglich. Da das Empfinden alleine auf das Subjekt beschränkt, wird es vom Geist der Anschauung begleitet. Dies stellt das Subjekt als Mythos in den Zusammenhang mit anderen Welten, das Bewußtsein so erweitert, was objektive Aussagen über sich selbst und über die Welt ermöglicht.

 

Die Maxime „Erkenne dich selbstxx“ ist auch in diesem Kontext zu verstehen. Sie bleibt von unveränderter Gültigkeit für die Kultivierung des Menschen über alle Zeit hinweg. Sie ist nicht nur einen Grundlage der Kultur, sie ist auch eine Grundlage der Heilkunst und der Gesundheit. Empfindung im Geist der Anschauung kann und muß gelernt und verfeinert werden. Sie ist nicht an den Intellekt gebunden, sie ist nahezu jedem zugänglich.

 

© Daniel Menz 2018

 

 

 

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Anmerkungen:

 

ii„Das Zweckhafte ist sich darin selbst zum Zweck geworden, in sich selbst kreisend und sein Subjekt verschlingend.
Das Subjektivistische des Nutzdenkens erscheint entpersonalisiert als Absolutum, das Universum als Descartes Ideale Maschine.
Das Zweckhafte, das sich selbst Zweck ist, sich selbst begründend, ist der in sich selbst kreisende ontologische Zirkelschluss schlechthin. Das Bild des Leviathan.“
Herber Weiler: Sterndeuter aus dem Osten -> Der Leviathan; Books on demand, Juni 2017

iii„Beinahe jedes dritte geschluckte Medikament (30 Prozent) ist ein Schmerzmittel, gefolgt von Antidiabetika mit mehr als 18 Prozent und Psychopharmaka mit knapp 14 Prozent. Antibiotika landen mit einem Anteil von neun Prozent auf Platz vier. Insgesamt verbrauchten die Österreicher im Jahr 2014 mehr als 805 Tonnen Medikamente.“
- derstandard.at/2000043269190/Studie-Oesterreicher-schlucken-245-Tonnen-Schmerzmittel-im-Jahr

ivKonsumgüter und persönlicher Sinn: die versiegende innere Quelle wird durch eine strömende äußere Quelle kompensiert. Da die extern induzierten Empfindenswelten aber den inneren nicht gleichwertig sind, müssen immer neue Anreize gesucht werden. Konsum als Kompensation für fehlenden Sinn. In pathologischer Form als Konsumismus. Allerdings ist der Verbrauch auch ein Indikator für den Grad des Wohlstands. Deshalb wäre der Konsum nur dann ein Hinweis für das Maß an Sinnlosigkeit, wenn man das mitrechnen würde, was konsumiert werden würde, wenn es möglich wäre. → Konsumismus https://de.wikipedia.org/wiki/Konsumkritik

vXatntivon – Phantasiename für irgendein biochemisches Präparat

viNach Angaben des zeitgenössischen katholischen Bischofs von Lisieux sollen allein in den letzten beiden Jahren von Heinrichs Regierung Hinrichtungen, die auf seine Erlasse zurückgehen, 72.000 Menschen den Tod gebracht haben. (Wikipedia.de → Heinrich VIII).

viiRumpelstilzchen → https://de.wikipedia.org/wiki/Rumpelstilzchen

viiiWissenschaft als Religionsersatz postuliert unausgesprochen, sozusagen implizit: keiner kann in sich selbst vollständig werden. Man hat aber aus den Fehlern der Kirche gelernt: implizit ist das Zauberwort, es ist evident, ohne die Wissenschaft geht nichts, das versteht sich von selbst. Der Wissenschaftler als Kritiker supranormaler Methoden beruft sich oft mit dem Selbstverständnis eines gläubigen Kindes auf seinen Glauben, daß letztlich irgendwann die ganze Welt wissenschaftlich erklärt werden könne. Allerdings ist dieser Glaube derzeit (im Jahr 2018) stark ins Schwanken geraten, da die Wissenschaft erkennen muss, daß sie – salopp gesagt - nur für 5% Welt zuständig sei. Der überwiegende Teil sei nicht messbar, wenn überhaupt nur aus seinen Wirkungen zu erschließen (Dunkle Energie und Dunkle Materie), man habe keine Ahnung, um was es sich handeln könne.

ixDas Postulat: „beim Auftreten von Erkrankungen ist das Bewußtsein der Bedeutung vermindert“ ließe sich bildhaft so deuten: Inhalte sind zunächst von gestalthafter, geistiger Natur. Wenn sie als solche nicht im Bewußtsein erscheinen können, erscheinen sie, zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts des Seins, in realen oder psychischen Formen. Diese Formen können zwar noch an die ursprünglichen Inhalte erinnern, doch dies nur noch ahnungsweise, möglicherweise als Verneinung der ursprünglichen Inhalte. Die Krankheitsformen können nicht mehr erlöst werden, deshalb sind es immer Wiederholungsformen. In Form einer Deutung (die regelmäßig sich auch im Unterbewußtsein vollzieht), werden die Inhalte dann wieder dynamisiert, und damit einer Heilung zugänglich.

xebd.

xizur Sklaverei → https://de.wikipedia.org/wiki/Sklaverei
In den Gesellschaften wird dazu gewöhnlich eine paradoxe, aber wirkungsvolle Haltung eingenommen: Übt man freiwillig Tätigkeit aus, zu der man gezwungen ist, fühlt man sich frei. Der Betreffende „schwört dann Stein und Bein“, daß ihn die Sklaverei-Thematik nicht betrifft. In der Tat ist das Kriterium für Freiheit: bestimmungsgemäß. Dieses Attribut entscheidet, ob es sich um ein subjektives oder um ein objektives Freiheitsgefühl handelt.

xiiBestimmung bedeutet auch Einschränkung. Es ist jedoch klar: es ist sinnlos, etwas ausüben zu wollen, was nicht bestimmungsgemäß ist. Wollte der Apfelbaum Birnen hervorbringen, wäre dies sinnlos. Sinn macht nur, was in der Gestalt des jeweiligen Seins liegt. So folgt auch die Freiheit diesem Bild.

xiiiUnwissenheit als Schutz – Äußert sich ein Betroffener z.B. formal, dann nimmt der Hörer das Gesagte eher als Wahrheit, selbst wenn offensichtlich ist, daß er lügt. Auch in hierarchischen Beziehungen weigern sich die Untergebenen, gegebenenfalls Irrationalität oder Unaufrichtigkeit von Führungspersonen wahrzunehmen. Dies ist ein Selbstschutz, sie verhalten sich rational. Denn sobald man sich wesentlich äußerte, würde man Ziel von Anfeindungen.

xiv„Bei einem erwachsenen Menschen sterben in jeder Sekunde rund 50 Millionen Zellen ab“, aber fast eben soviele bilden sich in einem Organismus von 100 Billionen neu
https://www.spektrum.de/frage/wie-viele-zellen-hat-der-mensch/620672

xv„A Caverna“ von José Caramago, beschrieben in Wikipedia → Höhlengleichnis

xviDie Begriffe Freiheit und Anfang setzen die Naturbestimmung der Kausalität außer Kraft. Im wissenschaftlichen Glauben vertritt man die These, alles kann nur die Folge von etwas sein. Diese These selbst ist hochgradig irrational, und erzeugt ein Paradox, indem es durch sein Postulat selbst das verneint, was es postuliert. Dieses Paradox kümmert die Wissenschaftsgläubigen aber wenig, und dieser Umstand wäre ein Indiz dafür, daß das starke Beharren auf Allgemeingültigkeit der Wissenschaft als Neurose zu bewerten wäre.

xvii„Der parasitäre Pilz, wie auch das Mycel des Pilzes schlechthin, steht in seiner Signatur für das Geflecht. Im Unterschied zum gewachsenen Baum. Zur sich fügenden Gestalt.
Ähnlich wie im somatischen Bereich das annähernd zur gleichen Zeit entdeckte, aus Schimmelpilz entwickelte Antibiotikum Penicillin vor den Ursprung verdrängt (Wolfgang Döbereiner), wirkt das aus dem Mutterkornderivat gewonnene LSD auf psychischer Ebene, indem es die Zeit und den Raum neutralisiert.“
Herber Weiler: Sterndeuter aus dem Osten→ LSD und Internet ; Books on demand, Juni 2017

xviii → siehe wikipedia.de: lege artis

xixZum „Postulat der Bewußtseinsminderung durch Einnahme kausal wirkender Substanzen bei Erkrankungen“ sei angemerkt, daß Kritiker und Alltagssprache heute oft kaum noch zwischen Bewußtheit und Bewußtsein unterscheiden können. Dies könnte zurückzuführen sein auf die Gefangenschaft im Denken, die dazu führt, daß das rational denkende Subjekt seine Welt zum Objekt erklärt.

xxErkenne Dich Selbst - (Gnothi seauton) - „eine vielzitierte Inschrift am Apollotempel von Delphi, als deren Urheber Chilon von Sparta, einer der „Sieben Weisen“, angesehen wird. Die Forderung wird im antiken griechischen Denken dem Gott Apollon zugeschrieben. Als nosce te ipsum wurde die Anweisung ins Lateinische übernommen.“ → https://de.wikipedia.org/wiki/Gnothi_seauton